Schreiben

[60 Minuten Geschichte] Nyktophobie (29.07.12)

Was sind 60 Minuten Geschichten? Nun, es ist eine Art Fingerübung, ein kleiner Marathon für die Kreativität. Es gibt einen Schreibimpuls, ein Thema, ein Bild, einen Satz und dann hat man exakt 60 Minuten Zeit etwas dazu zu schreiben. Dabei geht es nicht zwingend um Perfektion – überarbeiten kann man später – sondern um ein kleines Gehirn- und Fingerjogging. Ich lasse die Geschichten gerne so wie sie sind und korrigiere nur die Rechtschreib- und Grammatikfehler. Genau auf diese Art ist im Jahr 2012 diese Kurzgeschichte entstanden.

Nyktophobie

Ganz plötzlich wurde es kalt im Zimmer. So kalt, dass Emma zu frösteln begann.
Müde blinzelnd setzte sie sich auf. Das Fenster stand offen und der Wind ließ die Gardinen gespenstisch flattern. Schnell tastete sie nach der Nachttischlampe.
Emma war keine große Anhängerin der Dunkelheit. Man konnte nichts sehen und die Finsternis schien einen immerzu in einem bedrohlichen Griff zu halten.
Bedrängung und die Angst, dass etwas in den Schatten lauerte. Ein unbekanntes Unheil.
Meistens versuchte Emma immer so lange wach zu bleiben, dass sie nur wenige Minuten brauchte, um einzuschlafen und nicht allzu lange bewusst in einem finsteren Raum liegen musste.
Obwohl sie inzwischen erwachsen war, schaltete sie immer noch alle Lichter auf den Gängen an. Zu groß war die Angst nachts auf dem Weg zur Toilette. Dabei waren es von ihrem kleinen, aber gemütlich eingerichteten Schlafzimmer vielleicht zwei Schritte.
Manchmal kam sich Emma selbst mehr als nur lächerlich dabei vor, aber auch wenn ihr Verstand ihr all seine logischen Argumente mit Vernunft darlegte, so siegte das Gefühl der Angst, dass immer bedrohlich auf ihrer Schulter zu lauern schien, um genau im richtigen Moment seine Krallen auszufahren und sie um Emmas Hals zu legen.
Mit klopfendem Herzen tappte sie über den kalten Laminatboden hin zum offen stehenden Fenster. Sie schluckte und vermied es aus dem Fenster nach unten zu sehen. Der Wind, sagte sie sich, Der Wind muss es gewesen sein. Dabei war sie sich vollkommen im Klaren darüber, dass das laue Lüftchen, das dort draußen wehte, niemals in der Lage gewesen wäre ihr – zugegeben altes, aber noch nicht derart marodes – Fenster aufzustoßen.
Schnell schloss sie es.
Draußen raschelten die Äste der Bäume und erneut fröstelte Emma.
Ihr war bewusst, dass sie jetzt definitiv nicht sofort wieder einschlafen konnte, also schlüpfte sie in ihre warmen Hausschuhe und begab sich in die Küche.
In einem alten Kessel setzte sie das Wasser für ihren Tee auf. Um sich abzulenken und das Warten angenehmer zu gestalten, setzte Emma sich mit einer Zeitschrift an den Küchentisch und blätterte darin herum. Von ihrem Platz aus konnte sie den Mond sehen. Fast Vollmond. Immer wieder schoben sich Wolken vor den leuchtenden Himmelskörper. Wie hypnotisiert beobachtete Emma das Schauspiel ehe sie jäh aus ihrer Trance gerissen wurde.
Das eindringliche Kreischen des kochenden Wassers hatte Emma erschreckt. Sie seufzte tief, mahnte sich in Gedanken zu mehr Ruhe und altersgerechtem Verhalten – aber trotz allem, sah sie sich noch einmal in der Küche um, ehe sie das Wasser in die Tasse mit dem Teebeutel schüttete, die sie zuvor bereitgestellt hatte.

Nachdem sie ihren Tee getrunken hatte, fühlte Emma sich deutlich besser. Ein warmes Getränk war schon immer eine gute Medizin gegen alle ihre Ängste gewesen. Schon als Kind war eine heiße Milch mit Honig ihr Narkotikum nach schrecklichen Albträumen gewesen. Manchmal hatte sie auch einfach nur geschwindelt, um nachts nochmal mit ihrer Mutter kuscheln und die leckere Milch trinken können.
Die Erinnerungen an vergangene Tage stimmten Emma melancholisch und sie streckte sich ausgiebig. Ihre Mutter war nun schon seit vier Jahren tot. Oder vielmehr verschwunden. Eines Tages war sie einfach wie vom Erdboden verschluckt. Unauffindbar. Zuletzt wurde sie damals von einem Fischer an der Küste gesehen.
Emma konnte sich gut vorstellen, dass ihre Mutter ihrem Vater gefolgt war. Dieser war ein Jahr zuvor an seinem Lungenkrebs gestorben. Emma schüttelte den Kopf. Jetzt wieder ins Grübeln zu kommen, würde ihr auch nicht helfen.
Vor ihrem Schlafzimmer gähnte sie laut in Vorfreude auf ihr weiches Daunenbett, doch sie schauderte erneut. Das Fenster stand wieder offen.
Gerade war der Mond wolkenverhangen und es wurde dunkel im Zimmer. Instinktiv klammerte sich Emma an den Türrahmen und fühlte an der Wand nach dem Lichtschalter.
„Verdammtes Ding, irgendwo muss er doch sein.“, sagte sie zu sich selbst.
Ihre Stimme zitterte und die Härchen an ihren Armen stellten sich auf.
Als sie den Lichtschalter endlich fand, schoben sich auch die Wolken weiter und das Licht des Mondes fiel sanft in den Raum.
Einen kurzen Moment glaubte Emma eine Silhouette am Fenster sehen zu können und sie wich zurück. Doch der Eindruck war sofort wieder verflogen.
„Das ist doch kindisch!“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Aber so sehr sie sich auch zusammenriss – selbst als das Fenster wieder geschlossen war und sie sich im Licht ihrer Nachttischlampe schlafen gelegt hatte, konnte sie einfach nicht einschlafen.
Es war mehr ein Dämmerzustand. Ab und zu sah sie das Gesicht ihrer Mutter, sah Bilder aus ihrer Kindheit. Ein Blinzeln und schon sah sie wieder ihren Nachttisch.
Die moderne kugelförmige Lampe strahlte ein warmes Licht aus.
Auf dem Digitalwecker waren Zahlen, jedoch war Emma zu müde sich zu konzentrieren und sich die Uhrzeit zu merken. Ein Roman von Agatha Christie lag daneben.
Vielleicht sollte sie nachts einfach keine Krimis mehr lesen?
Gerade als sie wieder dabei war in einen kurzen Traum zu sinken, wieder die Stimme ihrer Eltern vernahm, krachte es.
Binnen Sekunden saß Emma kerzengerade im Bett. Ängstlich starrte sie das Fenster an. Diesmal war der Wind kräftiger, blies die Gardinen höher und wilder in die Luft.
Emma öffnete die Schublade ihres Nachttisches und holte eine Taschenlampe hervor. Es war eine schwere, lange Taschenlampe. Emma umklammerte sie regelrecht, hielt sich daran fest. Wenigstens ein bisschen sicherer fühlte sie sich durch den möglichen Schlaggegenstand.
Sie musste sich jetzt zusammenreißen. Vorsichtig stand sie auf und ging barfuß zum Fenster. Diesmal warf sie einen Blick hinaus, doch unten im Garten war nichts.
Man merkte Emma die innere Unruhe an, denn sie kaute auf ihrer Lippe und tappte von einem Fuß auf den anderen. Ein weiteres Mal schloss sie das Fenster und drehte sich wieder in Richtung Bett.
Die Taschenlampe fiel zu Boden, als sie das laute Pfeifen des Wasserkessels hörte.
Was ging hier vor? Der Kessel sollte leer sein und die Herdplatte hatte sie auch sicher ausgeschaltet.
Kurz schniefte Emma. Die Angst wurde zu Panik. Rasch hob sie die Taschenlampe wieder auf und kramte ihr Handy aus ihrer Handtasche, die auf ihrer Kommode stand.
Sie wählte schon einmal die Nummer der Polizei vor.
Mit langsamen, bedachten Schritten betrat sie den Gang, hielt die Taschenlampe angriffsbereit hoch. Das unangenehme Pfeifen des Kessels hörte nicht auf, aber ansonsten war es still im Haus.
Das Herz pochte laut in Emmas Brust. Sie betrat die Küche, beeilte sich den Kessel vom Herd zu nehmen und begab sich sofort wieder in Angriffsposition.
Doch es blieb still, egal wie lange Emma wartete.
Nach einer gefühlten Ewigkeit legte sie das Handy beiseite und wischte sich über die Stirn, auf der sich Schweiß gebildet hatte. Emma atmete tief durch, schnaufte ein und aus. Und bemerkte einen seltsamen Geruch.
Würzig und seltsam vertraut. War das nicht das Parfüm ihrer Mutter?
Emma wunderte sich und dann fiel ihr etwas auf, was ihr in der Hektik und Anspannung nicht aufgefallen war. Auf dem Küchentisch stand eine Schatulle.
So eine, wie sie ihre Mutter einst gehabt hatte.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend trat Emma näher.
Als sie das Kästchen öffnete, kamen ihr die Tränen.
Das war der geliebte Familienschmuck, den ihre Mutter immer wie einen Goldschatz gehütet hatte.

In dieser Nacht konnte ich nicht mehr einschlafen. Wer oder was die Schatulle in der Küche abgestellt hat, habe ich nie herausgefunden. Aber ich danke demjenigen dafür.

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[…] Hallo meine Lieben, um meine prüfungsbedingte Rezensionsflaute zu überbrücken, habe ich eine Kurzgeschichte von mir vertont! Ihr findet sie auch zum Selbst lesen hier. […]