Psychologie

Was wirklich zählt…

Triggerwarnung: Suizid

Titebild by Ian Schneider on Unsplash

In der Prüfungsphase bin ich nervlich immer ein bisschen angeschlagen. Ich mache mir selbst viel Druck, da ich mein Studium gut schaffen will. Hinzu kommt eine unfassbar große Menge an Fachwissen, die ich mir einverleiben darf. Vieles davon lerne ich nur für die Prüfung – danach brauche ich es vermutlich nie wieder. In solchen Momenten werde ich oft ein bisschen wehleidig und jammere viel, zweifle daran, warum ich überhaupt studiere und nicht einfach das mache, was mir Spaß macht – schreiben, bloggen, Youtube und jeden Tag ausschlafen. Das ist natürlich auch Arbeit, aber ich fühle mich besser währenddessen. Vermutlich weil man etwas erschafft und direkt ernten kann, was man gesäht hat.

„Stacking up problems that are so unnecessary
Wish that I could slow things down
I wanna let go, but there’s comfort in the panic

And I drive myself crazy“

  • Heavy (Linkin Park ft. Kiiara)

Ich war noch nie jemand, der Schule viel abgewinnen konnte. Ich hatte das Glück nie viel lernen zu müssen, weil ich mich auch so durchmogeln konnte. Schlechte schriftliche Noten habe ich durch mündliche Beiträge ausgeglichen, denn ich diskutiere gerne, trage Informationen vor und gebe Wissen weiter. Fakten stumpf auf ein platt Papier zu replizieren und einen Punkt abgezogen zu bekommen, da man anstatt des gesuchten Fachbegriffs ein gleichwertiges Synonym hingeschrieben hat – dem habe ich nie viel abgewinnen können.

Dass sich das im Studium leider nicht grundsätzlich ändert, entmutigt mich immer wieder. Ich würde mich selbst als kreativen und einigermaßen sensiblen Menschen beschreiben – ich mag es Leuten zuzuhören und gemeinsam mit ihnen Probleme zu lösen und kreative Wege zu finden, wie sie mit ihrer aktuellen Situation besser klarkommen. Das möchte ich später als Psychologe auch unbedingt umsetzen. Aber das ist es, was ich wirklich will. Was für mich zählt. Deshalb habe ich mein Studium auch noch nicht hingeworfen. Ich habe ein Ziel vor Augen, das für mich zählt.

Dafür muss ich einige Dinge lernen, die meiner Meinung nach weniger relevant sind – welche Sitzposition in einem Bewerbungsgespräch offener wirkt, wie man Arbeits-, Organsisations- und Wirtschaftspsychologie unterscheidet, welcher Pausenrhythmus Arbeiter besonders effektiv macht…

Im Licht der vergangenen Tage wirken solche Sachen banal und unwichtig.

Wie viele von euch mitbekommen haben, hat sich der Sänger von Linkin Park Chester Bennington mit 41 Jahren das Leben genommen. Er hat seine Traumata in seinen Songs verarbeitet, offen über seine psychischen Probleme geredet – und hat dennoch nun diesen Schritt getan. Als Außenstehender wird man niemals verstehen, was letztendlich in genau dieser Situation genau dieser Person, den letzten Impuls gegeben hat. Niemand kann hineinschauen, niemand kann von sich behaupten vielleicht anders gehandelt zu haben, denn – auch wenn man Erfahrungen mit suizidalen Gedanken, Depressionen oder gar einem Selbstmordversuch gemacht hat – jeder Kopf ist anders. Wir können mitfühlen, wie sehr es schmerzen muss, aber wir werden es niemals auf genau dieselbe Weise spüren wie die betroffene Person selbst.

 

 

Aber es macht mich dennoch betroffen und traurig. Auch, wenn ich als Psychologe nicht den Mediziner-Eid ablege, so schreibt man es sich doch auf die Fahne, wenn man in die klinische, therapeutische Richtung gehen möchte. Jedes solche Schicksal wirkt dann wie ein verlorener Kampf. Das Leben ist kostbar. Aber wir alle wissen, wie schwer und hart es manchmal sein kann. Selbst psychisch gesunde Menschen werden irgendwann in ihrem Leben, zumindest für einen winzigen Augenblick, daran gedacht haben, wie es wäre zu sterben. Im Angesicht solcher Tragödien werden die Dinge des Alltags unglaublich klein. Noten, Abschlüsse, Besitztümer. Das alles macht das Leben vielleicht manchmal schöner, aber auch schwerer. Man besinnt sich zurück. Und ist es nicht tragisch, dass man dazu so eine schreckliche Nachricht braucht?

„I wanna heal, I wanna feel, what I thought was never real
I wanna let go of the pain I’ve felt so long

I wanna heal, I wanna feel, like I’m close to something real
I wanna find something I’ve wanted all along
Somewhere I belong“

  • Somewhere I belong (Linkin Park)

Was wirklich zählt, sind die Menschen um uns herum. Familie, Freunde, Leute, mit denen wir Interessen, gute Zeiten und schlechte Zeiten teilen. Das zu tun, was man liebt – auch wenn es manchmal erfordert, dass man sinnlose Formulierungen in seinen Kopf prügelt. Darüber zu schreiben und mit lieben Menschen zu reden, hilft mir meine Last weiterzutragen. Was hilft euch in finsteren Momenten? Es tut gut, sich das irgendwo festzuhalten – immer ein Notizbuch parat, in das ihr Fotos, Kinokarten, Autogramme, Bilder o.Ä. kleben könnt. Dinge, die euch daran erinnern, dass es schonmal bessere Zeiten gab und wieder geben wird. Denn wenn der kleine Teufel auf der Schulter einem böse, vernichtende Dinge ins Ohr flüstert, vergisst man gerne, was man bisher erlebt und erreicht hat. „Glücklich sein“ wirkt dann wie ein ferner, nie dagewesener Begriff und man beginnt alles zu hinterfragen.

In der Prüfungsphase zweifele ich oft. An meiner Intelligenz, meinem Wert als Mensch, meiner Disziplin, meinen Fähigkeiten und ob ich überhaupt dafür geeignet bin, Leuten zu helfen, wo ich mir doch so oft selbst nicht helfen kann. Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite, die gerne in Vergessenheit gerät, die weiß, was ich alles bewirken kann. Ich möchte gar nicht Mutter Theresa werden oder Wunder vollbringen, ich möchte tun, woran ich glaube und den Menschen um mich herum, Zeit und Liebe schenken. Und wenn ich mal strauchele weiß ich, sind sie für mich da.

Danke, dass ich mir das von der Seele schreiben durfte.


Wenn ihr euch selbst vom Gewicht der Welt erschlagen fühlt, als würde alles keinen Sinn mehr machen, als wärt ihr nur eine Last, als wärt ihr allein, niemand würde euch verstehen, niemand könne euch helfen – dann, bitte ich euch, sucht euch Hilfe. Streck nochmal die Hand aus. Die Entscheidung für den Tod ist endgültig, die Entscheidung für das Leben niemals.

Telefonnummern der Telefonseelsorge:

  • 0800/111 0 111
  • 0800/111 0 222
  • 116 123

Die Telefonseelsorge bietet sowohl Beratung per Mail, als auch per Chat, wenn ihr nicht anrufen möchtet.

Wenn ihr euch in akuter Gefährdung befindet, vielleicht Angst habt, vor dem, was ihr euch selbst antun könntet, könnt ihr außerdem die 110 wählen oder euch in der Notaufnahme vorstellen. Niemand wird euch in irgendeine Station einsperren, in der ihr kein Tageslicht seht. Auch wenn es im Krankenhaus manchmal hektisch und rabiat zugeht, wird euch Hilfe zuteil.

Kommt an Bord:

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6 Jahre her

Hallo, wow, was für ein ehrlicher Text! Sehr gut geschrieben! Von einer Freundin der Sohn hat sich auch vor kurzem umgebracht. Es ist mir nicht fremd, ich kenne auch andere Leute, kenne Leute, die in der Psychiatrie arbeiten bzw mit psychiatrisch Kranken. Ich beschäftige mich auch generell viel mit Psychologie. Ich hoffe, das hört sich nicht zu hart an, aber für mich gehört der Suizid zum Restrisiko, wie wenn jemand Chirugie an einem kranken Herzen sirbt. Es ist auf jeden Fall tragisch und man muss um jedes Leben ringen, aber ich sehe (i.d.R.) keine Schuld bei der Umwelt oder den… Read more »

6 Jahre her

Ein schöner und wichtiger Text, vielen Dank! Kurz nachdem die Mitteilung über Chesters Tod Umlauf machte, war meine Twitter TL voll mit Tweets, in denen Hilfe in jeglicher Art und Weise angeboten wurde. Und wenn es nur Zuhören war. Das fand ich sehr berührend und ist mir in der Art noch nie auf FB begegnet. Auch auf Twitter gab widerliche Posts, aber auf FB waren sie dann doch weiter verbreitet. 2014 hat sich ein Freund von uns das Leben genommen, was schon schwer genug war. Eine Person aus meinem näheren Umfeld hat dies dann mit den Worten „Man kann ja… Read more »