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[Kurzgeschichte] Was ich noch erledigen wollte

Was ich noch erledigen wollte

Warnung: Diese Geschichte behandelt sensible, düstere Themen und könnte für einige Leser verstörend sein. Empfehlung ab 16 Jahren.

Genre: Horror

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Schon als ich heute Morgen aufgewacht bin, hatte ich das Gefühl, dass ich etwas vergessen hatte. Etwas Wichtiges, etwas, was ich noch tun wollte. Das nagende, unsichere Zwicken, das einen beschleicht, wenn man in den Urlaub fährt und sich nicht genau daran erinnern kann, ob man den Herd ausgeschaltet oder die Haustür abgesperrt hat. Entweder man fährt zurück oder man beruhigt sich und denkt, es wird schon alles gut sein. Während ich Frühstück machte, grübelte ich noch ein bisschen, aber weil es tagsüber genug zu tun gab, dachte ich bald nicht mehr daran. Heute Abend würden meine Eltern zu Besuch kommen, damit wir gemeinsam Weihnachten feiern konnten. Die meisten Vorbereitungen hatte ich bereits getroffen, den Großteil der Einkäufe erledigt. Den Vormittag über wollte ich mir Zeit nehmen, die Gans vom Metzger abzuholen, die letzten Geschenke zu verpacken und den Baum zu schmücken. Die Beilagen hatte ich bereits vorbereitet, sie mussten nur noch abgewürzt und aufgewärmt werden. Die Gans kam mit einer Würzmischung und brauchte nur im Ofen vor sich hinschmoren.

Ich ging also hinaus zu meinem Auto. Es schneite sanft, jedoch blieb der Schnee nur auf Dächern und in den Vorgärten liegen, sonst schmolz er wieder. Keine weißen Weihnachten, aber besser als nichts. Überall in der Nachbarschaft hingen Lichterketten über den Büschen und Bäumen, in den Fenstern standen Kerzen und Engelfiguren. Die Nachbarskinder tobten ausgelassen im Schnee. Sie konnten kaum erwarten, dass es Bescherung gab.

Der Metzger war sehr beschäftigt, es waren viele Kunden im Laden und die übrig gebliebenen Auslagen waren an der Hand abzählbar. Eine ältere Dame in dickem Mantel verhandelte mit einer Verkäuferin über den Weihnachtsbraten, den eine andere Kollegin im Hintergrund zubereitete.

„Das war eine Bestellung. Es tut mir sehr leid, aber wir haben weder Gans, noch Ente übrig“, entschuldigte sich die Verkäuferin. In ihrem Gesicht lag eine Spur von Bedauern, die langsam einer genervten Schnute wich.

Die ältere Dame zeterte, sprach einen derben Fluch aus und rauschte aus dem Laden. Mit einem Lächeln näherte ich mich.

„Sie wünschen?“, fragte mich die Verkäuferin, wieder ein Lächeln auf den Lippen. Es erreichte ihre Augen jedoch nicht. Sie wollte vermutlich auch nichts lieber als endlich Feierabend machen zu können. Ich sagte ihr, dass ich einen Gänsebraten bestellt hatte und sie schien zufrieden, dass ich kein nerviger Kunde war. Dankend nahm ich die Plastiktüte entgegen, bezahlte und verließ den Laden. Ich mochte Metzgereien nicht wirklich. Der Geruch von Fleisch und Blut ließ in mir immerzu Übelkeit aufsteigen. Die alte Dame von vorhin stand noch auf dem Gehsteig und fixierte die Metzgerei mit bösem Blick. Ein Taxi fuhr vor und ihr wütende Augen erreichten auch mich. Unwohlsein breitete sich in mir aus. Ohne mich aus den Augen zu lassen, stieg sie in das Taxi. Für einen Moment konnte ich mich nicht bewegen. Erst als das Taxi an der Kreuzung abgebogen war, verließ mich das Gefühl der Beklemmung.

Es war doch zu erwarten, dass man auf den letzten Drücker an Weihnachten ohne Vorbestellung nicht erwarten konnte, dass alles auf Lager war.

Zuhause setzte ich heißes Wasser für Kartoffeln auf, holte das tiefgefrorene Gemüse auf dem Tiefkühlfach und schob die Gans in den Ofen.

Ich hatte mir den Schmuck für den Weihnachtsbaum schon ausgesucht, aber die Kisten standen noch oben auf dem Dachboden. Also stieg ich hinauf ins Obergeschoss und ließ die in der Decke eingebaute Leiter nach unten fahren. Irgendwie befürchtete ich immer, die Treppe würde eines Tages einstürzen, wenn ich sie benutzte. Zwar hielt ich Ordnung auf dem Dachboden – ich lebte alleine und hatte nicht so viel Krimskrams – aber unangenehm war es trotzdem. Die Glühbirne, die den Raum mit schwachem Licht erhellte, wackelte immer, wenn man die Leiter hinunterließ oder etwas Schweres bewegte.

Die Kisten waren feinsäuberlich beschriftet. Im Sommer hatte mich der Putzfimmel gepackt und ich hatte hier oben alles sortiert, verpackt und geordnet. Obwohl ich genau wusste, was alles auf dem Dachboden lagerte, erschrak ich jedes Mal vor dem Spiegel in der Ecke, der mit einem Tuch abgedeckt war. Es war ein alter, schwerer Spiegel mit aufwändig verziertem Rahmen. Ein Erbstück meiner Großmutter, das weder zur modernen Einrichtung in meiner Wohnung passte, noch Platz an den Wänden hatte. Aus Nostalgie und in der Hoffnung, ihn vielleicht eines Tages irgendwo für einen guten Preis versteigern zu können, bewahrte ich ihn jedoch auf. Das Licht der Glühbirne flackerte gespenstisch und obwohl ich nicht abergläubisch war, beeilte ich mich die Kartons nacheinander nach unten zu tragen.

Wenn man alleine wohnt, ist man an Stille gewohnt, aber heute lag etwas Unangenehmes darin. Ich schaltete das Radio an und ließ mich von Weihnachtslieder bedudeln, während ich den grünen Tannenbaum mit roten und silbernen Kugeln schmückte. Es war ein dunkles Purpurrot, das mich an Blut erinnerte. Das Silber war kalt und eisig wie Schnee. In der undeutlichen Spiegelung der Kugeln sah ich müde und abgehalftert aus. Ich durfte nachher nicht vergessen, mich etwas zu Schminken. Sonst würden meine Eltern umfallen vor Schreck!

Da fiel mir wieder ein, an was ich mich seit dem Morgen nicht erinnern konnte. Ich lächelte in mich hinein und beeilte mich ein wenig. Die Geschenke packte ich ordentlich ein, legte sie unter den Baum. Im Wohnzimmer dimmte ich die Lichter bis nur noch die LED Kerzen am Weihnachtsbaum leuchteten. Es sah so schön und fröhlich aus. Ich zog mir hübschere Klamotten an, legte ein wenig Make Up auf und deckte den Tisch. Der Ofen piepte und verriet mir, dass die Gans fertig war. Ich nahm sie aus dem Ofen und legte sie auf einen großen Teller. Anschließend garnierte ich sie mit Petersilie und anderen Kräutern. Auch die Beilagen verteilte ich in Schüsseln auf dem Tisch, penibel darauf bedacht, dass keine Spritzer auf die weiße Tischdecke tropften. Ich dachte daran, wie seltsam es ist, Sachen zu vergessen und sich dann in bestimmten Momenten wieder daran zu erinnern. Meine Eltern würden in zehn Minuten kommen. Es blieb mir noch genug Zeit.

Ich ging zur Schublade in meinem Schlafzimmer und holte die Überraschung heraus, dann setzte ich mich an den Tisch, zündete die Kerzen an und hielt sie in meiner Hand.

Meine Eltern hatten einen Schlüssel und würden von selbst reinkommen. Ich schaltete das Licht aus und wartete gespannt im Dunkeln. Mein Herz pochte vor Aufregung bis zum Hals. Ich konnte das Grinsen nicht unterdrücken.

Da hörte ich einen Schlüssel im Schloss. Die Tür öffnete sich.

„Hallo, mein Schatz! Frohe Weihnachten!“, flötete meine Mutter fröhlich, „Oh, hier ist es aber dunkel!“

Sie schaltete das Licht an, da sie im Kerzenschein kaum etwas sehen konnte. Sie war dick eingemummelt und mein Vater, weniger warm angezogen, kam mit roten Ohren und roter Nase hinterher.
„Oh wow!“, sagte er als er den reichlich gedeckten Esstisch sah.

Ich lächelte breit und zog meine Überraschung von meinem Schoß hervor.

Das, was ich noch erledigen wollte.

„Frohe Weihnachten!“, sagte ich und schoss mir mit einer 9mm Pistole ein großes Loch in den Kopf.

Kommt an Bord:

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