Schreiben

[Gedanken] Winterspaziergang

Ich fand schon immer Faszination an morbiden, schaurigen Dingen. Dem Tod, der Vergänglichkeit. Auf der ganzen Welt gibt es unterschiedliche Rituale, Zeremonien um den Totenkult.

Ich gehe gerne auf Friedhöfen spazieren, lese Grabinschriften und frage mich, was für ein Leben die Personen wohl gelebt haben, die dort begraben liegen.

Ich liebe die imposanten Grabmäler mit weinenden Engeln, die schlichten Holzkreuze oder die mit Bildern und Figuren, die das Leben des Verstorbenen beschreiben.

Was für Geheimnisse hatten sie? Was haben sie bereut? Wer besucht nach all den Jahren das Grab?

Heute war ich in der Eiseskälte wieder spazieren. Trotz zweistelligen Minusgraden war der verschneite Weg von Fußspuren gesäumt, Kerzen und frische Kränze, die nicht älter als wenige Stunden oder Tage sein können. Die klirrende Kälte hat einige Blumen eingefroren und konserviert, andere Pflanzen sind verdörrt und lassen ihre braunen Köpfe hängen. Hier liegen Menschen, die viele Jahrzehnte auf dieser Erde gelebt haben und manche, die aus irgendeinem schrecklichen Grund nicht sehr alt wurden. Auf einer der Wiesen sind mehrere Urnengräber unter den Bäumen, komplett von einer Schneeschicht bedeckt. Am Weg steht ein Schild mit mehreren Plaketten, die die Namen und Daten tragen. Ich verweile bei einer Statue, die von Efeu umrankt ist und vor der frisch wirkende Kränze von Feuerwehr und Bürgermeister abgelegt sind. Ein rotes Grablicht flackert noch. Am anderen Ende der Wiese steht eine ältere Frau vor einer anderen kleinen Tafel und ich kann sie schluchzen hören. Ich habe einen Stein im Bauch, fühle mich fehl am Platz in diesem Moment, der vermutlich sehr schmerzhaft und intim für sie ist. Ich bin hier nur Besucher, ich bin nur Gast und hier liegt niemand, den ich kenne. Ich habe keine Taschentücher dabei, sonst wäre ich vielleicht hinüber gegangen und hätte ihr eines angeboten. Worte hätten nicht helfen können. Unfähig mich zu bewegen, unsicher was ich tun soll, verharre ich also vor der Tafel und starre auf die Fußabdrücke im Schnee. Das Schluchzen wird leiser und knarzende Schritte im Schnee lassen mich wissen, dass die Dame gegangen ist. Ich warte noch, fühle mich irgendwie verantwortlich für ihr Leid. Dann fasse ich mir ein Herz und gehe weiter, um mir die Tafel anzuschauen, vor der sie geweint hat. Es sind mehrere kleine Messingplatten, manche schon ganz dunkel und rostig, andere poliert und neu. Ich sehe auf einer besonders sauberen Plakette einen Männernamen und das heutige Datum von vor einem Jahr. Mir wird ganz schwer ums Herz. Ein Stückchen weiter liegt eine einzelne Blume und jemand hat mit den Fingern ein Herz in den Schnee gezeichnet. Mir fröstelt während ich weiter gehe.

Ich besuche selten unser eigenes Familiengrab. Natürlich liegt das daran, dass ich in einer anderen Stadt lebe. Letztendlich weiß ich nicht, ob es etwas bringt, Gräber zu besuchen. So geht es wohl vielen Leuten. Hier auf dem Friedhof sind einige Flächen frei. Dennoch berühren mich die kleinen Gesten. Das Herz im Schnee, die Fußstapfen, die entzündeten Kerzen und die alte Dame.

Ein bisschen weiter wird die ruhige, nachdenkliche Stimmung von Deutscher Büokratie in Form von leuchtgelben Schildchen jäh zerstört.

„Die Nutzungszeit ist abgelaufen“

Kurz stelle ich mir vor, wie sich eine Leiche aus dem Grab erhebt, ihr Köfferchen trotzig hinter sich herschleifend, und den Friedhof verlässt.

Das ist nicht der einzige Aufkleber in dieser Form. Es gibt auch rote Warnaufkleber auf denen steht, dass der Grabstein umstürzgefährdet ist und man aufpassen soll.

Dennoch – nach der Begegnung von eben will mir das selbst mit meinem durchaus schwarzen Humor nicht wirklich witzig erscheinen. Ich frage mich, ob es nicht auch etwas dezenter geht. Ob es den Toten wichtig ist, wo sie ruhen ist fraglich. Aber ich denke an die Angehörigen, die alten Leute, die einsam zuhause sitzen, weil ihr Partner von ihnen gegangen ist. Die von der kleinen Rente ein Grab nicht bezahlen können.

Es sind traurige Gedanken, aber bald sehe ich wieder Kerzen, Lichter und eine Familie, die gemeinsam ein Grab besucht.

Es ist eiskalt, ruhig und die Sonne geht langsam unter. Selbst vor der Jesus-Statue am Kreuz hat jemand Kerzen hingestellt und angezündet. Es wirkt friedlich und ein Vogel hüpft auf einem Grab mit Tannezweigen herum.

Ich schreibe ein Wort in den Schnee. Ein Wort, dem ein Zauber innewohnt. Ein Wort, das gut beschreibt, worum es bei Friedhöfen, Todesbräuchen und dem Totenkult letztendlich geht – egal ob man gläubig ist oder nicht.

Liebe.

Kommt an Bord:

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